Angriff und Verteidigung wurden bisher allein nach dem Kriterium des positiven bzw. negativen Zwecks, der das Handeln im Krieg motiviert, bestimmt. Im Kapitel IV.4 habe ich allerdings festgestellt, dass der politische Zweck nicht der alleinige Antrieb ist, der die Anstrengungen im Krieg rechtfertigt bzw. ermöglicht. Es sind vielmehr auch der kollektive Hass auf die gegnerische Gemeinschaft und der unbedingte Wille zum Sieg, welche an die Seite des politischen Zwecks treten und jeder für sich zusätzliche Kräfte generiert, die dem politischen Gemeinwesen zum Zwecke des Krieges zur Verfügung stehen.[1] Nun ist allgemein bekannt, dass der Gedanke der wunderlichen Dreifaltigkeit erst sehr spät in das Werk eingefügt wurde, während die beiden den Angriff und die Verteidigung abhandelnden Bücher eines vergleichsweise frühen Ursprungs sind. Es stellen sich daher einige Fragen, die ich im folgenden nach und nach abarbeiten möchte.
Zunächst ist zu prüfen, ob die Einführung der zusätzlichen zwei Elemente die beiden unterschiedlichen Kriegsformen grundsätzlich in Frage stellt. Dies könnte ganz einfach durch den Hinweis gelöst werden, dass Clausewitz in seiner spätesten Notiz dezidiert Angriff und Verteidigung im Rahmen von „ganz evident[en]“[2] Sätzen anspricht und dass dies ein hinreichender Beleg für die weitere Gültigkeit der beiden Kriegsformen sei. Dies soll aber nicht reichen, denn wir wollen es uns nicht zu leicht machen und das gesamte, dahinterstehende Rational nachvollziehen.
Die Clausewitz’sche Kriegstheorie – vielfach nur rein objektiv-deskriptiv verstanden – ist in einem wesentlichen Punkt normativ postulierend: Das kriegführende politische Gemeinwesen soll sein kriegerisches Handeln an dem politischen Zweck ausrichten[3] und in diesem Sinne zweckmäßig handeln. Allein dies ist kein Gesetz, sondern eine zentrale Forderung der Theorie. Freilich kann auch der Hass oder der unbedingte Wille zum Sieg den Akteur insofern überwältigen, als dass er sich allein hiernach ausrichtet und also den Zweck des Krieges vollkommen aus den Augen verliert. In einem Krieg aber, der nur noch durch Instinkte bestimmt wird, der also keinem dem Krieg äußeren Zweck mehr dienlich wäre, kann es auch keinen Angriff und keine Verteidigung mehr geben, da es nichts zu erhalten und nichts zu gewinnen gibt, sondern der Krieg zu einem sich selbst bestätigenden Selbstzweck würde. Clausewitz zieht hier einen Strich und stellt fest, dass ein Gewaltakt, der überhaupt keinem politischen Zweck mehr dient auch kein Krieg sei, dass also der politische Zweck oder auch die feindselige Absicht ein bestimmendes Merkmal sei.[4]
So klein und unbedeutend nun also der politische Zweck im Vergleich zu Leidenschaft und freier Seelentätigkeit auch sein mag, fordert die Clausewitz’sche Theorie vom Akteur, seine Kräfte und deren Handeln auf diesen Zweck zu kanalisieren; alles andere wäre unzweckmäßig und insofern ineffizient.[5] Von diesem Standpunkt aus haben Leidenschaft und freie Seelentätigkeit nur insofern einen Einfluss auf den Krieg, als dass sie die darin zur Verfügung stehenden Kräfte vergrößern oder verkleinern. Da sie jedoch keine Grundlage für die Art des Handelns darstellen, so bestimmen sie auch nicht die Form des Krieges, d.h. die Frage ob ein Akteur vorzugsweise angreift oder verteidigt.
Nun könnte es aber eine Rückwirkung geben, d.h. die Form des Krieges könnte die entsprechenden Einflussgrößen stärken oder schwächen. So wird die Feindschaft und der Hass eines Akteurs durch Gewalt, die an ihm ausgeübt wird, im Sinne eines Wunsches nach Rache und Vergeltung vergrößert.[6] In diesem Sinne ist offensichtlich ganz unabhängig von dessen Ergebnis ein Angriffskrieg weniger geeignet, den Hass und die Feindschaft innerhalb eines politischen Gemeinwesens zu entfachen, als ein Verteidigungskrieg. Der Angriff stellt einen gewaltsamen Akt dar, während die Verteidigung diesen eigentlich nur abwehren will, also eher reaktiv gewaltsam ist. Es ist also anzunehmen, dass ein Verteidigungskrieg den Hass und die Feindschaft mehr anregt als ein Angriffskrieg und dies kann durchaus als ein tendenzieller Vorteil der Verteidigung betrachtet werden.
Andererseits ist dem Angreifer der Sieg viel näher als dem Verteidiger, denn ersterer hat die größeren Kräfte und ist in der Vorwärtsbewegung. Dem Angreifer kann also tendenziell unterstellt werden, dass er sich überlegen fühlt,[7] während sich der Verteidiger eher in einer aussichtslosen Lage befinden und also von Zuversicht und Mut verlassen werden kann.[8] Es ist also wahrscheinlicher, dass der Angreifer den Sieg um seiner selbst willen anstrebt, der Verteidiger aber tatsächliche Existenzängste aussteht.
Es ist also festzustellen, dass beim Angreifer tendenziell die freie Seelentätigkeit, beim Verteidiger die Leidenschaft gefördert wird und die beiden Einflussgrößen in diesem Sinne als Kräftemultiplikatoren des politischen Zwecks auftreten. Freilich ist dies relativ, denn auch der Angreifer kann Hass auf seinen Gegner entwickeln und der Verteidiger kann die Zuversicht des Sieges auf seiner Seite haben; allein als Tendenz könnte es zutreffen.
Daraus könnte nun unmittelbar gefolgert werden, dass ein sich im Angriffskrieg befindliches politisches Gemeinwesen vorrangig darauf zu achten sollte, Hass und Feindschaft beim Gegner nicht weiter zu schüren, während das sich verteidigende politische Gemeinwesen seine Unternehmungen tunlichst darauf richten sollte, dem Gegner die Hoffnung auf einen Sieg zu nehmen. Dies gilt jedoch auch andersherum und insofern ist der Erkenntnisgewinn an dieser Stelle recht gering.
Die bis hier gehende Betrachtung geht aber von einem Idealzustand aus, in welchem ein Akteur tatsächlich – so wie die Theorie es fordert – sein Handeln allein auf den politischen Zweck auszurichten vermag, unabhängig von seinen eigentlichen Motiven zum Krieg. So wird es in der wirklichen Welt freilich niemals sein, denn die Elemente Leidenschaft und freier Seelentrieb werden sich natürlich auch auf der Handlungsebene manifestieren und dem Krieg seine eigentümliche Gestalt geben. Solange sie dezidiert dem politischen Zweck untergeordnet bleiben, werden sie dabei als gelegentlich auftretende Friktion[9] in Erscheinung treten und nur eine untergeordnete Rolle spielen. Nun soll die Kriegstheorie, um nicht in den Widerspruch mit der Wirklichkeit zu geraten, die drei Elemente Hass, Spiel der Wahrscheinlichkeit und politischer Zweck jedoch nicht in einem willkürlichen Verhältnis zueinander betrachten, sondern sie sich wie zwischen drei Anziehungspunkten schwebend vorstellen.[10] Wird dies jedoch getan, so wird auch ersichtlich, dass der politische Zweck in eine vollkommen untergeordnete Rolle geraten kann, somit beliebig wird und also eine andere dieser drei Dimensionen sich den Krieg unterwirft.
Wenn es der unbedingte Wille zum Sieg ist, der den Krieg in der Hauptsache motiviert, so geht es nur noch um den Sieg um seiner selbst willen.[11] Der politische Zweck würde nur noch als Ordnungskriterium notwendig sein, um den Sieg überhaupt definieren zu können. In diesem Zusammenhang muss jedoch gelten, dass je unwahrscheinlicher der Sieg wird, desto weniger kann auch dieses Motiv für den Krieg geeignet sein. Demnach kann nur bei annähernd gleichstarken Gegnern das Motiv des unbedingten Willens zum Sieg auch beidseitig gedacht werden, ansonsten muss es allein dem Stärkeren, d.h. dem Angreifenden, zu eigen sein. Für den Schwächeren, sich verteidigenden, muss – insbesondere je näher die Niederlage rückt – zwangsweise das negative politische Motiv in den Vordergrund rücken, da zunehmend die eigene Existenz gefährdet wird und dieses Motiv natürlicherweise alle anderen verdrängt. Sind aber beide Parteien in etwa gleich stark und suchen beidseitig den Sieg um seiner selbst willen, so würde sich der Krieg seiner absoluten, idealen Gestalt annähern. Da der ideale Krieg jedoch ein Absurdum darstellen würde,[12] kann daraus abgeleitet werden, dass ein vorrangig durch den Willen zum Sieg motivierter Krieg unter gleichstarken Gegner nicht ins Leben gerufen werden könnte. Um die Wahrscheinlichkeit des Sieges zu steigern und den Gegner zu überbieten, müssten beide Parteien ihre Kraftanstrengungen bis zum Äußerste steigern. Aber auch der unbedingte Wille zum Sieg kann nicht selbst unbegrenzt gedacht werden, sondern auch er hat sein Maß und seine Grenze. Im Ergebnis ist der hauptsächlich durch den unbedingten Willen zum Sieg motivierte Krieg von dem im wesentlichen politisch motivierten Krieg kaum zu unterscheiden, da er das politische Motiv weiterhin zielstrebig verfolgen muss. Der unbedingte Wille zum Sieg kann also ausschließlich als Kräftemultiplikator gedacht werden.
Anders verhält es sich jedoch bei dem Motiv des Hasses und der Leidenschaft. Dieses kann offensichtlich vorherrschen und den politischen Zweck vollkommen in den Hintergrund drängen. Ein im Schwerpunkt durch Hass motivierter und dementsprechend handelnder Akteur braucht keine Theorie und keine Lehre mehr – er handelt rein instinktiv. Wird dieses Motiv bis zum Äußersten gesteigert gedacht, so gibt es im Handeln auch keine negativen Zwecke, sondern allein die Vernichtung bzw. Schädigung des Gegners ist Zweck und Selbstzweck allen Handelns. Der Krieg wäre dann jedoch nur noch ein gegenseitiger, blinder Gewaltakt, ein Schlagabtausch und würde jegliche strukturierte Form verlieren. Es wurde bereits gesagt, dass ein solcher Akt für Clausewitz außerhalb des Kriegsbegriffs liegen würde. Vielmehr würde ein Zustand der Anarchie vorherrschend sein.
Es ist also festzuhalten, dass die Motive Hass und unbedingter Wille zum Sieg an dem Grundprinzip Angriff und Verteidigung nichts verändern, sondern in der Regel nur als Verstärkungs- oder Schwächungsprinzip auftreten. Wenn wir in der Praxis die Wahrnehmung haben, dass auf diese Art besonders motivierte Akteure vornehmlich angreifen, so hängt dies freilich damit zusammen, dass diese Motive ihre Kräfte vergrößern und sie aus diesem Grunde die (moralisch) stärkeren sind und ihnen daher die Angreiferrolle automatisch zufällt.
weiter zu IV.7 Zusammenfassung
- Zurück
- Weiter >>